Marathon statt Kurzstrecke

…oder was befähigt uns zum Durchhalten?

„Augen zu und durch“ sagen wir, wenn wir etwas Schweres vor uns haben, von dem wir glauben oder wissen, dass es uns Unannehmlichkeiten beschert, diese Unannehmlichkeiten zeitlich aber sehr begrenzt sind. Ich gebe alles, gehe vielleicht auch an die Reserven und erreiche so mein Ziel.

„Augen zu und durch“ so dachten wir auch im Frühling zur Zeit des absoluten Lockdowns. Wir verzichten auf das meiste, was unser Leben so lebenswert macht, auf soziale und emotionale Kontakte, auf Freizeitgestaltung und sogar auf das Grundrecht unserer Bewegungsfreiheit. „Alles wird gut- wir bleiben zuhause“ so stand auf den Schildern mit dem Regenbogen, jenes Symbol, das für Gottes dauerhaften Bund mit den Menschen steht. Konnten wir das wirklich glauben? Medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse sprachen dagegen.

Und gerade in den letzten Tagen spüren wir, dass nicht alles „gut“ geworden ist, nach einer Atem- und Verschnaufpause im Sommer, prägt das Virus nun wieder unseren Alltag mit oftmals apokalyptischen Nachrichten, mit Beschränkungen und leider auch mit populistischen Schuldzuweisungen. Wir begreifen: Corona fordert von uns keine Kurzstrecke, sondern einen Marathon.

Unabhängig von unseren sportlichen Fähigkeiten wissen wir, dass ein Marathon mit seinen gut 40 Kilometern anderes abverlangt als eine Kurzstrecke. Man kann über eine solche Distanz nicht dauerhaft alles geben, man muss mit seinen Kräften haushalten, man muss motiviert bleiben und braucht auch zwischendurch eine Stärkung.

Im Umgang mit diesem neuartigen Virus können wir also nicht permanent im Ausnahmezustand sein, uns von Angst und Panik beherrschen lassen, das macht physisch und psychisch krank. Vielmehr müssen wir es als eine mittelfristige Normalität hinnehmen, mit diesem Virus zu leben. Dazu gehören bestimmte Regeln der Vorsicht und Achtung, ein Marathon ist eben auch kein Spaziergang.

Wir sind es gewohnt, dass wir uns im Sport gegenseitig Mut machen und uns anfeuern, wie es so schön heißt. Genau diese Solidarität vermisse ich in der gegenwärtigen Diskussion. Da werden Urlauber gegen Daheimgebliebene ausgespielt, Junge gegen Alte, Migranten gegen „Deutsche“, Gesunde gegen Risikogruppen. Verfolge ich die Nachrichten im Radio, in der Zeitung und in den sozialen Medien, so spüre ich, im Gegensatz zum Frühjahr, eine Welle der Entsolidarisierung und Schuldzuweisung an den jeweils anderen. Solidarität kann auch bedeuten, gegebenenfalls den anderen auf bestehende Regeln hinzuweisen, niemals aber, seitens politisch Verantwortlicher, Möglichkeiten zu schaffen, Verfehlungen anzuzeigen (und das noch anonym).

Um diesen Marathon durchzuhalten, muss ich mich immer wieder neu motivieren, meine Verantwortung wahrzunehmen. Aber ich brauche als Stärkung auch meine Mitmenschen, die sich dieser Eigenverantwortung bewusst sind und nicht nur auf andere zeigen. Ich brauche Verantwortliche in Politik und Gesellschaft, die jenseits von Profilierung das Gemeinwohl im Sinn behalten, die aber auch gerne mal zugeben dürfen, dass sie ratlos sind. Ich brauche eine Kirche, die als Korrektiv auftritt mit eigenen Positionen und Ideen und bestärkend wirkt.

Und ich brauche meinen Glauben, die Gewissheit, dass mich jemand auf meiner langen Laufstrecke begleitet, wie es im Alten Testament David zu Salomo sagt:

Der Herr, mein Gott,

wird dir beistehen.

Er verlässt dich nicht

und wird dir helfen,

bis der Bau des Tempels

abgeschlossen ist

(1. Chronik 28,20)

Wir erleben im Moment einen Einschnitt, den es im Deutschland seit der Nachkriegszeit so noch nicht gegeben hat. Betroffen sind davon alle auf unterschiedliche Art und Weise: Wir, die Älteren, haben das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs. Die junge Generation wird neben den gegenwärtigen Defiziten im Bildungs- und Betreuungssystem ganz bestimmt noch Jahrzehnte für die Corona-Kredite zahlen.

Ich wünsche uns allen, dass wir trotzdem täglich neu spüren

Ich kann durchhalten,

weil ich gehalten bin

 

 

Foto und Text: Barbara Reene-Spillmann

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