Berlinfahrt der KAB: Predigt von Bischof Dr. Overbeck

Predigt im Pontifikalamt zum Gedenken an den seligen Nikolaus Groß und die Märtyrer

des Nationalsozialismus – 4. So im Jk B – Sonntag, 28. Januar 2024, 10.00 Uhr,

Kirche Regina Maria Martyrum in Berlin

Es gilt das gesprochene Wort!

Texte: 1 Kor 7,32-35;
Mk 1,21-28.

Liebe Mitglieder der KAB aus dem Bistum Essen und aus dem Erzbistum Berlin,
liebe Schwestern des Karmel Maria Martyrum,
liebe Mitbrüder im geistlichen Amt,
liebe Schwestern und Brüder,
liebe Gemeinde.

I.
Den Ort dieses Gedenkens, an dem wir Eucharistie feiern, gäbe es nicht ohne das Lebensopfer jener Märtyrer des Nationalsozialismus, die unweit von hier, in der Haftanstalt im Plötzensee, auf grauenhafte Weise ihr Leben lassen mussten, weil sie für ihre Überzeugungen eintraten und so zu Feinden eines menschenverachtenden Regimes geworden waren. Zu diesen zählt auch Nikolaus Groß, Seliger unseres Bistums Essen, der als KABler und als Mann konkreten Glaubens im Alltag, als Ehemann und Familienvater mit 7 Kindern für seine Glaubenstreue mit dem Leben
bezahlt hat und am 23. Januar 1945, gemeinsam mit anderen bedeutenden Widerstandskämpfern, hier in Plötzensee durch den Strang starb. Seine Leiche wurde verbrannt, sodass es kein Grab als irdischen Erinnerungsort an ihn gibt. Sein Erinnerungsort ist das Opfer, das er gebracht hat und das betende Gedenken, das wir, auf seine Fürsprache vertrauend, vor Gott bringen. Hieraus erwächst Kraft zu einem Lebensbeispiel, das sich, weit über den Raum des Christseins hinaus, auszeichnet durch widerständige Menschlichkeit. Viele der Märtyrer der nationalsozialistischen Zeit waren durch ihr unbeirrbares Eintreten für die Würde des Menschen, für die Freiheit und das Recht, an denen sie unbeirrbar festhielten, Menschen des Evangeliums geworden, davon überzeugt, dass man dem Unrecht und dem schrecklichen Leid der damaligen Zeit mit widerständiger Menschlichkeit zu begegnen habe. Dieser Gewissheit blieb Nikolaus Groß und vielen anderen Märtyrerinnen und Märtyrern der Naziherrschaft bis zu ihrem Tod verpflichtet. Daran zeigt sich auf der einen Seite durch einen unerschütterlichen Widerstand gegen menschenverachtende Ideologien, um was es bei einer widerständigen Menschlichkeit geht, nämlich um Ideologiekritik aus Glaube. Zum anderen zeigt sich darin ein Lebenszeugnis, das geprägt ist von der unbedingten Solidarisierung mit den Opfern dieser Ideologien über alle Nationalitäten und Identitätsgrenzen hinweg. Martyrium hat immer mit der Solidarität mit den Opfern zu tun.

 

II.
Diese Perspektiven zeigen sich an einer anderen bedeutsamen Persönlichkeit, die auch lange in Berlin inhaftiert war und einige Monate später als der selige Nikolaus Groß und seine Gefährten gewaltsam zu Tode gebracht wurde, nämlich am 9. April 1945, im KZ Flossenbürg. Es geht um den evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, dessen Widerstand nicht nur durch eine klare Stellungnahme gegen den staatlichen Antisemitismus und in der Solidarität mit den Opfern seine Gestalt fand, sondern dessen widerständige Menschlichkeit keine nationalen Grenzen kannte. Er wusste von Anfang an, dass die NS-Ideologie mit ihrer rohen Gewalt nichts anders ist als ein Feind des Friedens und der Sicherheit der Völker.

Schon 1934 hat Dietrich Bonhoeffer in seiner Funktion als Jugendsekretär der Deutschen Jugenddelegation des Weltbundes in seiner „Friedensrede“ auf einer ökumenischen Tagung auf Fanø in Dänemark anlässlich des drohenden Krieges zu Frieden- und Völkerverständigung gemahnt. Die damals drängendsten Fragen fasste er zusammen in einem Ton, der auch heute noch nachklingt: „Wie wird Friede? Wer ruft zum Frieden auf, dass diese Welt es hört, zu hören gezwungen ist? Dass alle Völker darüber froh werden müssen? Der einzelne Christ kann das nicht […] die einzelne Kirche […] wird erdrückt von der Gewalt des Hasses“. Seine vielen Fragen bringen gleich die Antwort mit, die sich daran ablesen lässt, dass die Notwendigkeit eines solidarischen Miteinanders über die Grenzen einzelner Nationen und Konfessionen hinausgeht und in einem gewissen Sinne ein europäischer, mehr noch ein universaler Gedanke wird. Dabei stützt sich die widerständige Menschlichkeit, von der Dietrich Bonhoeffer in seiner Mystik im Blick auf den gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus geprägt ist, nicht nur auf die Verurteilung der menschenverachtenden Handlungen im Rahmen einer Anwaltschaft für Betroffene, sondern auch vom Bewusstsein geprägt zu sein, gemeinsam in europäischen und weltgesellschaftlichen Zusammenhängen verstrickt, handeln zu müssen. Solidarisierungen dieser Art halten, wenn sie denn um des guten Willens geschieht, ein enormes Gestaltungspotenzial für das Zusammenleben von Menschen in der einen Welt bereit. Nicht umsonst schreibt Dietrich Bonhoeffer in der Haft in Berlin an der Jahreswende von Sylvester 1944 zum Neujahr 1945, wie sehr er „von guten Mächten wunderbar geborgen“ sei.

 


III.
Zudem erinnere ich an dieser Stelle auch an die Perspektiven des Zeugnisses der Lübecker Märtyrer, deren widerständige Menschlichkeit vor allem in ökumenischer Perspektive von hoher Bedeutung ist. Am 10. Oktober 1943 im Hamburger Gefängnis am Holstenglacis von den Nazis hingerichtet, werden die vier Geistlichen - Eduard Müller, Johannes Prassek, Hermann Lange und Karl Friedrich Stellbrink - zu Zeugen für die ökumenische Kraft des Martyriums, von dem schon so manche, die die gewaltsamen Folgen des Ersten Weltkrieges erlitten hatten, geprägt waren. Die katholischen Priester Lange, Prassek und Müller, die in den 1930er Jahren ihr Theologiestudium in Münster absolviert und dann in das Priesterseminar in Osnabrück eingezogen waren und fast gleichzeitig 1939/1940 nach Lübeck kamen, sind zusammen mit dem evangelischen Pastor Karl Friedrich Stellbrink eine eindrückliche Antwort auf die Ideologie des Nationalsozialismus. Dabei war vor allem der evangelische Pastor Stellbrink anfänglich von den Ideologien des Nationalismus, des Militarismus und des Antisemitismus geprägt. Als linientreues Parteimitglied erschien er aus NS-Sicht zunächst als Idealbesetzung für eine Pfarrstelle in der Hansestadt Lübeck. Als er 1934 das Amt annahm, predigte er noch Alfred Rosenbergs Thesen von einer arischen Herkunft Jesu, die frei von Rom und Juda sei. In den darauffolgenden Jahren fand mit Blick auf die NS-Ideologie ein Gesinnungswandel statt, den Stellbrink auch öffentlich zum Ausdruck brachte. 1936 führte dies zum Parteiausschluss. Der Kontakt, den der evangelische Pastor Stellbrink und der katholische Pfarrer Prassek ab Mai/Juni 1941 in Lübeck suchten, indem sie Flugschriften, Hirtenbriefe, Zeitungsberichte und Predigten austauschen, machte deutlich, dass ihnen die konfessionellen Unterschiede nicht mehr so bedeutsam waren. Höhepukt der Aktivitäten der vier Geistlichen war die Vervielfältigung und Verbreitung der Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen. Alle vier wurden wegen Zersetzung der Wehrkraft, Rundfunkverbrechen, Landesverrat, Feindbegünstigung und Verstoß gegen das Heimtückegesetz inhaftiert und nach einem kurzen Prozess vor einem Lübecker Gericht am 23.Juni 1943 zum Tode verurteilt. Die ökumenische Kraft dieses Martyriums bleibt bis heute durch das Gedenken an die vier Lübecker Märtyrer erhalten.

 


IV.
Schließlich will ich auch an die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ aus München erinnern, das wohl bekannteste Zeugnis widerständiger Menschlichkeit, das die Studierenden und Professoren in ihren Flugblättern geben, indem sie das Bürgertum auf seine staatspolitische Pflicht hinwies: „Leistet passiven Widerstand – Widerstand, wo immer Ihr auch seid!“ Es geht darum, ein widerständiges Handeln von unten zu motivieren. Einer der Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, Alexander Schmorell, sagt nach seiner Verhaftung durch die Gestapo aus, dass sich die Gruppe mit den Flugblättern und Inschriften hauptsächlich an die Masse des Volkes wenden wollte. Indem sie die Bürger informiert, plant sie, alle Deutschen zum widerständigen Handeln zu ermutigen. Wer still Unrecht ertrage, anstatt es zu bekämpfen, trage Mitschuld. „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen; die Weiße Rose lässt euch keine Ruhe!“, so endet das vierte Flugblatt, das sie in der Münchener Universität verteilen.

Das Besondere am Widerstand der „Weißen Rose“ liegt somit in dem Ziel, den Mitbürgern ihre moralische Verpflichtung zum Widerstand vor Augen zu führen. Hierin zeigt sich noch einmal, was nach sprachlicher Herkunft der Begriff „Widerstand“ sagt, nämlich, dass es um die Bewahrung eines Standpunktes geht, um eine Form der charakterlichen Haltung durch ein tugendhaftes sich Entgegenstellen gegen das, was als Unrecht und Übermacht wahrgenommen wird. Aber es geht auch um die gesellschaftlichen Dimensionen, denn Widerstand wird nicht gemacht, Widerstand wird geleistet, so wie Hilfe, Beistand oder Dienst geleistet wird. Das zeigt die Größe und die Tragweite, die mit dieser Haltung verbunden ist.

Zusammengefasst heißt das: Alle besagten Märtyrer sind vom christlichen Glauben her geprägt und sorgen sich um die Sache des Herrn, wie es der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief zum Ausdruck bringt (vgl. 1 Kor 7,32). Sie sind davon bestimmt, sich an den zu halten, der als Sohn Gottes nicht nur in Liebe den Menschen verbunden ist, sondern der die für die Menschen entschiedene Liebe Gottes selbst ist, Jesus von Nazareth, der Christus. Von ihm her wird
deutlich, was es heißt, nicht nur ein persönliches Zeugnis im Glauben zu geben und in ökumenischer Weite zu leben, sondern auch jenseits aller Grenzen die Weite des Glaubens zu einem unbedingten Zeugnis für die Wahrheit zu machen und mit Überzeugung zu argumentieren, die moralisch der widerständigen Menschlichkeit verpflichtet ist und ethisch auf den Grundsätzen des Rechts ein christliches Lebenszeugnis gibt.


V.
Schauen wir von hierher auf unsere heutigen Wirklichkeiten, so erkennen wir, wie gefährlich es ist, wenn sich, wie z.B. in der Ukraine Religionen instrumentalisieren lassen oder in Israel mit dem Überfall der Hamas auf die Juden der Antisemitismus in seiner brutalsten und schlimmsten Form Realität wird. Antisemitismus steht immer für Gewalt, denn er richtet sich gnadenlos gegen alle Jüdinnen und Juden. Antisemitismus darf niemals siegen – nie. Es ist unsere Verpflichtung, für diese unumstößliche Wahrheit unseres Ethos´ einzutreten, dabei das Heimatrecht aller Juden in Israel zu verteidigen, weil es ihnen nie genommen werden darf und kann, zugleich aber auch nie das unsägliche Leid zu ignorieren, das über viele unschuldige Palästinenser gekommen ist, die zugleich in der Geiselhaft der Hamas und anderer Terroristen verfangen sind.

Schließlich: In beiden kriegerischen Auseinandersetzungen bin ich immer wieder davon bewegt, dass hier Menschen gegeneinander kämpfen, die alle an den einen Gott glauben und dennoch viel Leid, Not und Tod übereinander bringen. In der Ukraine sind es meist Christen, in Israel und im Heiligen Land Juden, Christen und Muslime. Dabei gehört es doch zu den Überzeugungen aller gläubigen Menschen, dass Gott Frieden will, und zwar als ein Werk der Gerechtigkeit (vgl. Jes 32,17), das aber immer auch ein Werk der Liebe, der Barmherzigkeit und der Versöhnung ist.

Wenn dann, wie durch die Russisch-Orthodoxe Kirche und ihren Patriarchen in Moskau, Reden vom westlichen Werteverfall radikal auf die Spitze getrieben werden, bis hin zur religiösen Verklärung des Kriegsgeschehens als Kampf des Lichtes gegen die Dunkelheit, dann sehen wir hier, welche Verkehrung von Argumenten stattfinden muss, um ein autoritäres und repressives politisches System zu stützen, das sich selbst erhalten will. Bei aller ökumenischer Verbundenheit muss dem im Sinne einer Ökumene des Friedens entschieden entgegengetreten werden. Ideologische Verstrickung und der Verlust seiner prophetisch-kritischen Distanz zum Staat verzerren das Christentum so nämlich bis zur Unkenntlichkeit.

Widerständige Menschlichkeit dagegen ist eine Perspektive, mit der wir als Christen stattdessen der niederträchtigen Logik von Krieg, Enthumanisierung und Vernichtung begegnen können, damit mehr Friede wird. Widerständige Menschlichkeit bleibt dabei ein starker Begriff. Menschlichkeit meint Mitgefühl, Achtsamkeit füreinander und Nächstenliebe. Sie verbindet sich mit Widerständigkeit, wenn unsägliches Leid geschieht und die Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Dann zeigt sich eine Wahrheit, die fast körperlich zu spüren ist: Dieses Leid darf nicht sein! Dieses Unrecht ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Es braucht Widerstand, um gegen jene Kräfte und Mächte anzugehen, die solches Leid verursachen. Darum auch ist jedes christliche Friedenshandeln durchdrungen von der Grundhaltung christlicher Hoffnung, die nicht vertröstet, sondern in der Einsicht gründet, dass der Mensch in Jesus Christus von der Sünde und vom Tod hin auf ein neues Leben befreit und in die eschatologische Spannung des Reiches Gottes von „schon jetzt“ und „noch nicht“ hineingenommen ist. Es ist die Hoffnung darauf, dass unser Scheitern nicht das letzte Wort hat. Solche Hoffnung macht irisches Handeln keineswegs irrelevant, es rückt es vielmehr in eine richtige Perspektive, entlastet und motiviert zugleich.

 

VI.
Zeichen dieser Hoffnung und Kern dieser christlichen Friedenspraxis ist das Gebet. Darum auch vertrauen wir Christen dem Gebet, das eine Kraft hat, die über das, was ein Mensch alleine tun kann, weit hinausgeht. Das Gebet um Frieden und Versöhnung ist ein grenzüberschreitendes Zeichen von Glauben an das Gute im Menschen, das am Ende siegt. Derart ist das Gebet nicht nur ein Zeichen guten Willens, sondern vielmehr ein erster Schritt zu weitergehendem Handeln: „Das Gebet ist ein Vorentwurf der Tat“, sagt einmal der Moraltheologe P. Klaus Demmer msc. In und mit diesem Gebet stellen wir uns dem Bösen und der Gewalt entgegen, die niemals das letzte Wort haben dürfen. Genau aus diesem Grund wissen wir auch, dass die großen Märtyrer aller Zeiten immer betend in den Tod gegangen sind. Es gibt ein solches eindrückliches Zeugnis von Dietrich Bonhoeffer und von seiner Würde, mit dem er dem Galgen entgegentrat. Wir wissen es von Nikolaus Groß und seinem ringenden Beten, wie auch vom gemeinsamen letzten Gebet zusammen mit seiner Ehefrau, bevor er einige Tage später hingerichtet wird. Gebet verbindet, weil Gebet zeigt: Die Würde des Menschen ist unantastbar - von Gott her und von allem Anfang an. Das entscheidende Eintreten für Recht und Freiheit und gegen Rassismus und Antisemitismus ist deswegen niemals ein Angriff auf Meinungs- und Religionsfreiheit, sondern christliche Pflicht. Es geht darum, fundamentale Gewissheiten, die unser freiheitliches Miteinander garantieren, beständig zu schützen. Und was für unser Verhältnis zum Leben miteinander gilt, gilt auch für unser Verhältnis als Christen untereinander. Bei aller Unterschiedlichkeit von Meinungen und Überzeugungen, muss uns das Fundament, das Evangelium nämlich, verbinden und so für Ausgleich und Versöhnung sorgen. Gerade in den Welten, in denen Christen gegeneinanderstehen, braucht es diese Grundüberzeugung, für die die Märtyrer stehen: Gott ist kein Gott des Hasses und des Todes, sondern ein Gott der Gegenwart, des Lebens, der Versöhnung und der Liebe. Liebe befähigt uns dazu, der Macht des Todes in dieser Welt entschieden entgegenzutreten. Nicht Hass und Tod dürfen das letzte Wort haben, sondern die Liebe und das Leben. Dass ist nicht nur die Botschaft der Menschwerdung Gottes, sondern die Botschaft von Ostern, die Botschaft der Auferstehung Jesus Christi. In dieser christlichen Nachfolge sind wir deswegen aufgerufen zur Solidarität und Geschwisterlichkeit im Sinne widerständiger Menschlichkeit. So können wir zeigen, in der Spur der Märtyrerinnen und Märtyrer von Plötzensee widerständig menschlich zu sein, also Menschen des Evangeliums der Freiheit. Amen.

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